Seit es Leben gibt, gibt es auch Evolution, Weiterentwicklung und Veränderung – sie sind unsere täglichen Begleiter. So ist es auch bei allem was der Mensch geschaffen hat, jedes Etwas unterliegt einer Veränderung, sei es die Zeit die es altern lässt oder aber einfach neue Methoden und Möglichkeiten liefert es anders, besser zu machen.
Beim Automobil ist das nicht anders – war es in den 1950er Jahren noch nicht wirklich notwendig ein Auto massiv zu tarnen und damit so zu entstellen um sein wahres Gesicht vor der offiziellen Veröffentlichung so gut es eben geht zu verbergen, so wurde es ein paar Jahre später mit der aufkommenden Modellvielfalt immer wichtiger. Seit mehr als 30 Jahren werden zukünftige Automodelle extrem verunstaltet damit sich niemand einen Reim drauf machen kann wie z.B. die zukünftige S-Klasse aussehen wird. Die Methode hat System wenn es um den Versuch mit dem neuen Gesamtfahrzeug geht. Doch gibt es auch immer nur kleinere Baugruppen die getestet werden müssen, z.B. kann es sein das man auf einer Autobahn oder im Gebirge einem augenscheinlich vollkommen normalen aktuellen Mercedes begegnet und dennoch hat dieser womöglich schon die Motorengeneration für 2018 an Bord, oder verfügt über ein neuartiges Bremskonzept – die Möglichkeiten sind mannigfaltig.
Gerade am vergangenen Sonntag hatte ich die Begegnung mit einem solchen Wagen – es gibt immer ein paar kleine Merkmale die einen sofort erkennen lassen das hier kein normales E-Klasse Cabriolet an einem vorbeigeflogen kam.
Heutzutage fahren weit mehr solcher Baugruppen-Versuchsträger durch die Lande wie noch vor 30 oder 40 Jahren. Kein Wunder, muss und wird heute noch deutlich mehr an der Zukunft geforscht. Man nahm ja zu Beginn der 1990er Jahre an, dass Optimum an Automobil bereits erschaffen zu haben – das es nicht so war sieht man alle paar Jahre wieder aufs Neue wenn Daimler die neue S-Klasse präsentiert.
Was 1972 hoch gefeiert wurde, war 1979 mit einem Schlag abgelöst. Was erfolgreich war wie noch nie, wurde 1991 mit einem Paukenschlag an Innovationen abgelöst um darauf wieder 1998 neu erfunden zu werden. Und so geht die Kette immer weiter, die heute noch aktuelle S-Klasse kam 2005 auf den Markt und wird aller Voraussicht nach Anfang 2013 beerbt werden.
Gut ist eben nicht gut genug – das Beste oder Nichts! So sagte schon Gottlieb Daimler. Und wie jeder weiß ist das Bessere des Guten Feind!
Warum ich das alles erzähle? Nun ich möchte euch die Welt der Versuchsträger heute und früher näherbringen. Vor ein paar Wochen hatte ich die Gelegenheit einen solchen Wagen eine kurze Strecke zu bewegen. Es handelte sich um einen calcitweissen S350 preMOPF (BR 221) mit dem Kennzeichen „BB-FE 747″*, sonst verriet äußerlich nichts über seine Herkunft aus dem Sindelfinger Fahrzeugversuch.
Der Wagen verfügt über ein so genanntes „haptisches Gaspedal„, was natürlich in korrektem Daimler-Deutsch eigentlich Fahrpedal heissen muss – wie Ihr wisst.
Warum heißt es denn jetzt so möchte ich wissen. Die beiden Mercedes-Entwickler Manfred Steiner und Benjamin Lippert erzählen es mir. Haptik beschreibt die Lehre vom Tastsinn und nichts anderes macht dieses Fahrpedal, man könnte es auch „gefühlvolles Fahrpedal“ nennen. In erster Linie geht es hier um eine Effizienzsteigerung – oftmals gibt der Fahrer einen Tick zu viel Gas was gar nicht nötig wäre und um ihn hierbei zu unterstützen (nicht zu bevormunden!) hat man dem Fahpedal einen adaptiven Druckpunkt mit auf dem Weg gegeben. Der Druckpunkt wird ständig adaptiv vom Fahrzeug auf die jeweiligen Rahmenbedingungen berechnet und „hinterlegt“. Die wichtigsten Parameter hierfür sind gar nicht so neu wie man denken mag. Jeder Verbrennungsmotor hat ein Verbrauchskennfeld in dem er am meisten Leistung im Verhältnis zum Kraftstoffverbrauch abgibt, so etwas stellt man in einem Muscheldiagramm dar. Der spezifische Kraftstoffverbrauch (g/KWh) wird über dem effektiven Mitteldruck und der Drehzahl des Motors dargestellt – so auch in diesem Versuchsträger. Auf dem Bildschirm der gewöhnlich das Comand beinhaltet ist hier dieses Kennfeld dargestellt und zeigt in Echtzeit die Zustände im Motor dar.
Es funktioniert beeindruckend perfekt – man merkt sofort das im Fahrpedal ein weiterer Widerstand bzw. genauer gesagt ein Druckpunkt eingebaut ist. Alles unterliegt dem Motto: soviel Leistung wie gewünscht, jedoch nur soviel Kraftstoff wie unbedingt nötig.
Bis zu diesem Druckpunkt fährt man verbrauchsorientiert, drückt man das Fahrpedal weiter durch so ist man im leistungsorientierten Bereich den man jedoch häufig gar nicht wirklich ausnutzen kann bei den vorherrschenden Verkehrsverhältnissen. Eine weitere Spezialität des haptischen Fahrpedals ist das „Anklopfen“ genannte Szenario. Hierfür wird auf die Radarsensoren der Distronic PLUS (Abstandsregeltempomat) zurück gegriffen – erkennt nun die Elektronik das der Fahrer in X Metern ohnehin bremsen müsste so „klopft“ das Fahrpedal zweimal leicht und der Fahrer nimmt diesen Impuls im Fuß war. Geht er jetzt sofort vom Fahrpedal so kuppelt der Motor aus (oder deaktiviert sich umgehend, je nach Fahrzeugkonzept) und der Wagen kann seinen restlichen Schwung ideal ausnutzen.
Und wo bleibt der Vergleich zu Damals fragt Ihr? Zu Recht! An jenem Sonntag an dem ich auch auf das E-Klasse Cabriolet traf, hatte ich das Vergnügen im Rahmen eines kleinen W116-Treffens einen ehemaligen Versuchsträger auf Basis eines 450SEL 6.9 zu sehen und zu erleben!
Der Wagen ist seit vielen Jahren in Sammlerhand und stammt ursprünglich aus dem Fahrzeugversuch, d.h. er wurde als Werkswagen bestellt (erkennbar an der 291 in der Auftragsnummer auf der Datenkarte) und dann auf Sonderwunsch mit diversen Besonderheiten ausgestattet: u.a. mit Stoffpolsterung mit sehr auffälligem Dessin, zwei passenden Daunenkissen, spezielle Veloursteppiche, ebenfalls speziell angefertigte Holzkonsole mit Halterung für Amperemeter, Außenthermometer und damit verbundene Veränderung der gewöhnlichen Schalteranordnung.
Die Besonderheit(en) an diesem Wagen sind aber vielmehr dass er bereits für die elektrisch verstellbare Rücksitzbank vorgesehen ist (besondere Sitzwanne und Befestigungen im Rohbau), deshalb nennt man so etwas auch „Vorauswagen“. Eigentliches Highlight ist aber ein besonderer, handgefertigter Schalter für die vorderen Gurte die man mittels des Schalters „entspannen“ kann. Somit hat ein angelegter Gurt keine ein- oder beengende Wirkung mehr. Gerade in den 1970er Jahren gab es viele Widerstände in der Bevölkerung gegenüber dem Sicherheitsgurt, u.a. eben wegen der einengenden Wirkung.
Diese wirklich einmalige Besonderheit funktioniert auch heute noch, 35 Jahre nachdem der Wagen im Werk Sindelfingen produziert und vom Versuch aufgebaut wurde – Sagenhaft!
Erstmals verbaut wurde eine automatische Gurtentspannung in der S-Klasse W140 ab 1991. Auch heute noch haben die größeren Mercedes-Modelle dieses Feature serienmässig. Man merkt es nur wenn man darauf aktiv achtet. Legt man z.B. den Gurt an und aktiviert danach erst die Zündung so merkt man wie sich plötzlich das „Gurtgefühl“ in Luft auflöst, eine Feder entspannt den Gurtaufroller und nimmt so das leicht beklemmende Gefühl gänzlich.
Warum man sich mit der Einführung so viel Zeit gelassen hat liegt (wie immer) auf der Hand. Erst mit modernen Gurtstraffern kann man die gefährliche und in Fachkreisen als Gurtlose bezeichnete Lockerheit des Sicherheitsgurtes im Falle des Falles wieder ausmerzen – denn der Gurt muss stramm am Körper anliegen wenn es darauf ankommt!
Dieser besondere SechsNeuner ist heute im Besitz von Hartmut Rauter der auch eine nett anzusehende Website über die Fahrzeuge mit dem großen V8-Motor betreibt – klickt auf www.m-100.de rein.
Also, achtet mal auf die modernen Mercedes-Autos die Euch mit Böblinger Zulassung begegnen – es könnte sein dass Ihr soeben Bekanntschaft mit der Zukunft gemacht habt.
* Das Kennzeichen ist fiktiv
Fotos: ©fuenfkommasechs.de